Zum Thema “Retraiten” – meine persönliche Reise und warum Common Ground so gut dazu passt

Ich bin sehr klassisch sozialisiert, meine Eltern waren Unternehmer:innen und katholisch. In meiner Adoleszenz empfand ich unser Wirtschaften als stupid, schädlich. Ich habe mich oft mit meinem damals besten Freund darüber ausgetauscht, wie wir etwas ändern können. Sein Ansatz: Rausgehen, einfach nicht mitmachen. Meiner: Reingehen, mich an eine Stelle heranarbeiten, wo ich verändern kann. Nächtelange Diskussionen in der Spätpubertät – schöne Erinnerungen.

Er ist rausgegangen, lebt auf seiner wunderschön in der Natur gelegenen Selbstversorgungs-Farm im Südwesten von Frankreich mit seiner Frau. Damals, beide um die zwanzig, wagten sie gemeinsam ein anderes Leben – wie inspirierend und gleichzeitig so schmerzhaft für mich, da ich plötzlich alleine mit meinen Ideen da stand, und das auch noch in meinem konservativen Umfeld.

“Werd erwachsen”, “das sind romantische Spinnereien”, “mach was aus dir” – gut gemeinte Anweisungen, die ich als Frühzwanziger bekam. Mit Ach und Krach brachte ich das Studium hinter mich… und begann an die Anweisungen zu glauben. Die nächsten fast zehn Jahre baute ich mir eine kleine Karriere auf, Geschäftsleitungsmitglied in einem KMU, Chef von 25 Mitarbeitenden in Verkauf und Marketing.

Und dann kam sie wieder, diese grundsätzliche Frage nach dem “Wofür”. Ich kündigte, machte mich selbständig, meine Reise nahm eine neue Abzweigung. Sie führte mich in Sinnlosigkeiten, Freuden, Achterbahnen, Berge und Täler. Die Selbständigkeit gab mir die Freiheit, all diesen Sonderbarkeiten nachgehen zu dürfen. Nicht einfach, nicht mal immer erfüllend, aber frei, das war es wert.

Ich begegnete auf dieser Reise auch der Lebendigkeit in Organisationen. Im Herbst 2018 nahm ich am Happy Reinventing Organisation Lab teil – organisiert von Jan Maisenbacher 🌊 und Severin von Hünerbein. 24 Stunden gemeinsam mit mir fremden Menschen, an denen wir uns intensiv über eine andere Art von Organisieren austauschten. An diesem Retreat habe ich auch Jeannine Brutschin kennengelernt – und daraus hat sich Common Ground entwickelt.

In diesen 24 Stunden ist es gelungen, Menschen so zu verbinden, dass sie Vertrauen zueinander aufbauen, um Neues anzugehen, etwas Frisches zu gestalten. Wir haben intellektuell, körperlich, emotional, intuitiv, in der Natur, im Kreis, am Feuer, in der Küche beim Kochen, beim Essen und am Tisch beim Spielen einen Zugang zueinander gefunden, der sich über Jahre hinweg immer wieder durch gemeinsam geschaffene, tiefe Begegnungen erneuert hat.

Retraiten sind für uns Orte dieser tiefen Begegnungen. Wir bei Common Ground führen vier Retraiten für uns selbst durch, je einen in einer der Jahreszeiten. Wir nehmen konkrete Fragestellungen aus der Arbeit mit und finden für uns passende Formate, in denen wir uns miteinander verbinden, um kollektiv die Antworten entstehen zu lassen. Oft in der Natur, mit Leichtigkeit, Bewegung, Spiel verbunden – es entsteht eine eigenartige Magie, wir festigen uns als Team und arbeiten an unseren Herausforderungen gleichzeitig. Das Zusammenkommen von Beziehung und Fortschritt erzeugt eine ganz eigene Dynamik. Unsere Retraiten sind gleichzeitig Teambuilding, Arbeit, Beziehungspflege, Ausrichtung und Kompostieren. Und das Schöne daran: die Magie ist wiederholbar.

Rückblickend und mit einiger Erfahrung kommen mir einige Magie-Elemente in den Sinn:

  • Gute Vorbereitung und eine gemeinsame Fragestellung, die wir lösen wollen
  • Ein Ort, der mit der Natur im Dialog steht
  • Genügend Zeit
  • Sessions, die Bewegung, Haptik, Gedanken, Intuition und Emotion verbinden
  • Leichtigkeit und Spiel
  • Speis und Trank
  • Zeit draussen und drinnen, Spaziergänge zum Beispiel
  • Einbezug aller Teilnehmenden
  • Allein sein und zusammen sein in guter Balance
  • Freiheit von einseitigen Machtzwängen
  • Neugier an Neuem
  • Lagerfeuer

Die Liste können wir beliebig verlängern – bitte tut dies in den Kommentaren. Was sind für dich Elemente von magischen Retraiten, in denen sich eine neue gemeinsame Zukunft zeigt, Herausforderungen konkret angegangen werden können und wir uns als Team in der Tiefe miteinander verbinden?

Methoden helfen uns, solch spielerische, tiefe, wirksame Retraiten zu gestalten. Auch hier wage ich eine Liste, weder abschliessend noch als Rezept, eher als Auswahl an Zutaten.

  • Naturdialog: Sammeln von Gegenständen in der Natur auf einem Spaziergang, mit denen das Team ein gemeinsame Bild zu einer konkreten Frage erstellt. Das Bild ist der aktuelle Zustand, an dem wir gemeinsam Hand anlegen können. Langsam verändern wir das Bild, bis sich eine neue Zukunft zeigt. In Runden geben wir der Veränderung Bedeutung und legen nächste Schritte fest. Das Bild ist unsere Ernte, das oft noch lange in Erinnerung bleibt.
  • 3d-Modelling: Wir basteln uns Zukunft. Mit frei wählbaren Materialien wie Spielfiguren, Glasperlen, Sicherheitsnadeln, Steinen, Tannenzapfen, Schneckenhäusern, Luftballons und Knetmasse modellieren wir unser Team- oder Organisationssystem. Die Reflexion geschieht aus allen vier Himmelsrichtungen. Sinn ergibt sich. Ganz langsam bewegen wir einer nach der anderen ein Element in Richtung “Wunschzustand” und kommentieren und dokumentieren die Veränderung. Langsamkeit und Verbundenheit mit sich und dem System sind die Grundlagen.
  • Aufstellungen: Menschen verkörpern die Elemente einer systemischen Frage. Die Elemente stellen sich in den Raum, erleben ihre Beziehung und Dynamik während der Aufstellung. Die menschlichen Repräsentanten und die Beobachtenden um das System herum haben die Möglichkeit, diese Dynamik am eigenen Körper zu erleben. Es ist beeindruckend, wie klar sich Wandel anfühlen kann, auch wenn wir die Worte dazu erst im Nachhinein dazugeben. Das Gefühl geht in die Körperintelligenz über, kann dort abgespeichert werden und ist Tage, Wochen, gar Jahre nach einer Aufstellung abrufbar.
  • Jahreszeiten: Wir lassen die Jahreszeiten in die übergeordnete Fragestellung einfliessen. Was will der Frühling von uns als Team? Was möchte spriessen? Die Antworten auf diese Fragen finden wir auf einer Wiese oder im Wald. Die Resonanz von uns mit unserer unmittelbaren Umwelt führt dazu, dass wir wiederentdecken, dass auch wir Menschen nur ein Teil von etwas Grösserem sind. Und dass wir mit allem verbunden sind. Auch mit den anderen Menschen in der Retraite
  • Runden am Lagerfeuer: So simpel und doch so mächtig. Der Blick in die Mitte, in das gemeinsam lodernde Feuer, ist eine Metapher für die Sinnhaftigkeit der Arbeit im Team, die uns Wärme und Energie gibt. Eine nach der anderen spricht, bis sich das Gemeinsame zeigt. Wir schreiben unsere Wünsche still oder laut auf Holz auf und übergeben sie dem Feuer. Es fühlt sich äusserst erleichternd an, verbindend, wenn ich meine und unsere gemeinsamen Aufgaben dem Feuer übergebe. Es schafft ein Bewusstsein dafür, dass ich loslassen und die Kontrolle an den Kosmos übergeben darf.

Gemeinsam kochen, Standup paddeln, Zelten, verdeckte Aufstellungen mit Figuren, Holzbau-Konstruktionen, Geschichten erzählen – es geht darum, einen anderen Kontext zu schaffen, aus den gewohnten Mustern auszutreten, zu verlangsamen und die Dinge in Ruhe von einem frischen Standpunkt anschauen zu können. Es geht um Verbindung, um das Eco-System, statt um das Ego-System.

Und da bin ich wieder am Anfang meiner Geschichte, die vom Raus- und Reingehen erzählt. In diesen Retraiten bin ich gleichzeitig drin, mit den Menschen und meiner Natur verbunden, und draussen, ausserhalb des gewohnten Denkens, der alltäglichen Muster. Ein Ort, wo ich mich wohl fühle, wo ich Wirkung erzielen kann. Dieses langsame Reinspüren zeigt sich auch in unserem Ansatz, der von Theorie U inspiriert ist.

Zusammen neugierig Unterschiede sehen, mitfühlend in die herrschenden Umstände und in Not hineinspüren, um mutig zu handeln und eine neue Realität zu schaffen, das können wir gemeinsam schaffen. Unsere Retraiten sind als dünne Orte konzipiert – dünn, weil du durch sie hindurch eine andere Realität fühlen und erleben kannst. Theory U spricht vom Presencing Moment, an dem du mit der Quelle der Inspiration in Kontakt trittst, wo sich deine Welt um dich plötzlich ändert. Eugene Gendlin und Carl Rogers sprechen von “Felt Shift” – das ist es, wofür wir einen Raum des Gelingens anbieten möchten. Ohne Garantie und mit guten Absichten.

Quelle:

Der nigerianische Philosoph Bayo Akomolafe vergleicht unser momentanes Tun mit einer Ameisen-Mühle, in der die Ameisen so lange ihren eigenen Pheromonen im Kreis hinterherlaufen, bis sie an Erschöpfung sterben. “Anschlussfähig” nennt sich das in der Organisationsentwicklung und im Coaching. Brauchen wir nicht eher Momente des Innehaltes? “Times are urgent, so let’s slow down”, meint Bayo Akomolafe dazu in einem Video, “ask what would a mountain think.”

By Clemzouzou69 – Own work, CC BY-SA 4.0,

Ich möchte mittendrin in dieser Ameisen-Mühle eine Retraite, einen Ort des Draussens schaffen, von wo aus wir Berge fragen können und uns neue Geschichten erzählt werden, mit welcher Haltung wir durch die Welt wandeln wollen. Eine Haltung der Linien statt der Punkte, Linien, die sich wandeln und verbinden, statt Punkte, die fix und isoliert sind. Retraiten, in denen ich das Kollektiv der Welt fühle und zuversichtlich dem Fluss des Universums statt der Ameise vor mir folgen kann.

Schön, dass ich nicht alleine bin mit meinem Vorhaben, schön mit euch zusammen, Kim Jana Degen und Jeannine Brutschin, für uns bei Common Ground und unsere mitreisenden Menschen und Organisationen solche wunderbaren Retraiten halten zu dürfen.

Für Common Ground

Oliver Müller

Veröffentlicht von Oliver Müller

My Why: Inspirieren, um neue Wege zu gehen. Mir ist es wichtig, dass Menschen vorher unsichtbare Möglichkeiten erkennen.

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