Manchmal fühle ich mich innerlich zerrissen. Das kommt in ganz alltäglichen Situationen vor, wenn ich zum Beispiel im Restaurant gefragt werde, was ich trinken möchte. „Citrooo!“ ruft da eine Stimme in mir hellbegeistert. „He spinnsch, weisch wievill Zucker isch dört drin??“ protestiert sofort eine zweite Stimme in ernster Tonlage. Was tun? Dem ersten Impuls folgen? Mich vertrauensvoll von der Stimme leiten lassen, die am vernünftigsten klingt? Egal wie ich mich entscheide, ich werde das schale Gefühl nicht los, dass ein Teil von mir gerade verloren hat. Was in komplexeren Situationen natürlich nur noch schlimmer wird:
Soll ich in diesem Projekt weiterhin mitwirken? Suche ich mir eine neue Arbeitsstelle? Horche ich mit diesen Fragestellungen in mich hinein, meldet sich eine ganze Reihe von Stimmen, eine ganze Gruppe von inneren Anteilen bei mir – mit glasklaren Meinungen, die oft unterschiedlicher nicht sein könnten. Der bekannte Kommunikationswissenschaftler Friedemann Schulz von Thun hat ein Modell zu diesem Phänomen entwickelt, welches er „Das innere Team“ nennt. Auf meinem Weg mit der Soziokratie habe ich den „inneren Konsent“ kennengelernt. Mich spricht die Vorstellung an, dass sich in meinem Innern ein Team befindet, welches aus den unterschiedlichen Aspekten meiner Persönlichkeit besteht.
Orientiere ich mich beim Umgang mit diesem inneren Team an der Soziokratie, habe ich ein klares Ziel: Eine Lösung finden, welche von allen – von dieser Fragestellung betroffenen – inneren Anteilen mitgetragen wird.
Ich finde es spannend, wie diese inneren Aspekte entstanden sind. Ich bin selbst keine Psychologin, glaube aber zu verstehen, dass meine persönliche Entwicklungsgeschichte, meine Ursprungsfamilie und das weitere Umfeld wesentlich dazu beigetragen haben, dass ich heute viele verschiedene Wesenszüge in mir spüre.
Meine Haltung ist es, diese Diversität in meinem Innern anzunehmen und als Chance zu sehen, all die unterschiedlichen Perspektiven in mir als Bereicherung zu erkennen. Ich merke, wie dadurch mein Verständnis für andere Menschen und ihre Sichtweisen wächst.
Ich kann im Alltag üben meine inneren Anteile zu erkennen. Jede Entscheidung bietet mir eine Chance dazu. Von „Was ziehe ich heute an?“ bis „Wie komme ich meiner Berufung auf die Spur?“ kann ich in mich hineinhorchen.

Schulz von Thun gibt den inneren Anteilen Namen, um den Wiedererkennungswert ihrer Stimme zu erhöhen. Er lässt die Menschen oft ihr inneres Team oder eine Auswahl von Aspekten zeichnen. Hier sind innere Anteile abgebildet, die das Risiko für Burnout erhöhen können. weitere Beispiele
Ich selbst lasse innere Aspekte oft durch Texte sprechen. Ich wähle dazu ein Duo von inneren Anteilen aus, welche sich in ihrer Meinung diametral gegenüber stehen. Beispielsweise der Teil von mir, der heute Nachmittag endlich die Dinge erledigen will, welche seit Wochen auf der Todo-Liste stehen und der Teil von mir, welcher einfach nur schlafen möchte. Ich werde mir erst klar über die Fragestellung: „Wie soll ich die drei Stunden heute Nachmittag nutzen?“ Ich gebe dann beiden Aspekten nacheinander die Möglichkeit ihren Standpunkt schriftlich auszuformulieren. Ich schreibe dazu zu erst aus der Sicht des einen Aspekts alles auf, was mir dazu in den Sinn kommt. Ich achte gut darauf, dass ich in der „Rolle“ des einen Aspekts bleibe, ich formuliere in der Ich-Form aus diesem Blickwinkel. Dann wechsle ich in den zweiten Aspekt und mache das Gleiche. Ich schreibe alles auf, was mir aus dieser Perspektive zu diesem Thema in den Sinn kommt. Im Anschluss mache ich bewusst gedanklich einen Schritt zurück und betrachte die beiden Standpunkte mit einer offenen Haltung aus einer mentalen gewissen Distanz. Mein Ziel ist es, aus dieser „Mitteposition“ eine Lösung zu finden, welche beide Anteile mittragen können. Manchmal braucht es dafür mehrere Ausdrucksrunden. Bei vielschichtigen Fragestellungen kann es auch vorkommen, dass ein solcher innerer Dialog über längere Zeit stattfindet, bevor sich ein gemeinsamer Weg zeigt. Es können dann auch mehr als zwei Aspekte an der Entscheidungsfindung beteiligt sein.
Spätestens wenn ich merke, dass eine bevorstehende Entscheidung eine komplexe Kombination von Anteilen betrifft oder die beteiligten Aspekte sehr emotional involviert sind, nehme ich meinen Körper als Unterstützung dazu. Wie das funktionert, habe ich im folgenden Video demonstriert. Ich orientiere mich dabei an der Vorgehensweise, wie sie in der Methode „Voice Dialogue“ von Hal und Sidra Stone vorgesehen ist.
So kann aus einem inneren Dialog mal die Antwort „Es Citro, gärn.“ entstehen und das nächste Mal bestelle ich vielleicht Hahnenwasser oder Mineralwasser mit Zitrone – nicht als fauler Kompromiss, sondern als Entscheidung, die innerlich abgesprochen ist und sich rundum stimmig anfühlt.
Dieser Blogbeitrag wurde original auf wildundverbunden.blog veröffentlicht.
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